Möckel wütet den Ball ins Tor © www.fototifosi.de
Die Geschichte dieses Spiel ist flott erzählt. Der SV Babelsberg geht früh und glücklich in Führung, der RWE erzwingt in der Nachspielzeit der Nachspielzeit den Ausgleich. Dazwischen: jede Menge schlechter Fußball. Auf taktische Details kann verzichtet werden. Eine fußballerisch limitierte Mannschaft wie der RWE tut sich naturgemäß schwer gegen einen versiert und kampfkräftig verteidigenden Gegner. Das war in der letzten Saison bereits so, es ist diese Saison so und daran wird sich in absehbarer Zeit wenig ändern. Im Übrigen teilt sich der RWE dieses Problem mit 80 Prozent aller Teams der 3. Deutschen Profiliga. Mindestens.
Und weil das so ist, und weil so wenig neu daran ist, und weil wir uns seit Beginn dieser Saison im Abstiegskampf befinden, und weil wir schon vier Heimspiele deutlich verloren haben, und weil das gestern Abend anders war, wundert mich die zwischen Wut und Hoffnungslosigkeit changierende Reaktion auf dieses Spiel. In- und außerhalb des Steigerwaldstadions. Die Mannschaft hat den Ausgleich mit allem was ihr zur Verfügung stand erzwungen. Prognosen sind eine schwierige Sache, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, aber eine will ich mal wagen: Liebe Zuschauer, liebe Foren-Diskutanten – besser ihr gewöhnt Euch gleich an diese Art von Spielen, an diese Art von Fußball, denn daran wird sich bis zum Ende dieser Saison nicht viel ändern. Klar, es wird Spiele geben, in denen der RWE (z.B. nach einer Führung) mehr Raum bekommen wird, aber die gestrige Art von Kampf- und Krampfkick wird es mindestens ebenso oft geben. Es wurde ein Punkt gewonnen, mehr war gestern eben nicht drin. Besser wären drei gewesen, aber der uns bevorstehende brettharte Abstiegskampf verbietet jeden Konjunktiv, sonst lautet er am Ende der Saison in seiner ultimativen Form: Wir hätten den Abstieg vermeiden können.
Am Sonntag wartet der SV Darmstadt 98, die stecken ebenso tief im Schlamassel wie wir. Von der taktischen Grunddisposition her wird dieses Spiel vermutlich etwas leichter für den RWE, weil Darmstadt Heimrecht hat und offensiver agieren muss, als Babelsberg das gestern tat.
Aber, das ist noch nicht alles, was mir heute auf der Seele liegt. Langsam wird es zu einer unguten beschissenen Erfurter Tradition, dass Spieler der eigenen Mannschaft zu Sündenböcken erkoren werden. In der letzten Saison gab es höhnischen Applaus gegen Reichwein, als er während des Heimspiels gegen Wiesbaden ausgewechselt wurde. Jene, die das damals taten, waren zu blöd oder zu besoffen (wahrscheinlich jedoch beides) um zu realisieren, dass der Verhöhnte im selben Spiel zwei Tore vorbereitete. In dieser Saison wurde Tunjic auf ähnliche Weise attackiert (gegen Bielefeld) und gestern traf Marco Engelhardt die Verachtung der Wutbürger. Zunächst kann festgehalten werden: Marco Engelhardt hat kein gutes Spiel gemacht. Damit war er jedoch mitnichten der einzige RWE-Akteur auf dem Platz. Überdies haben wir uns alle von seiner Verpflichtung mehr versprochen, als er bisher auf dem Platz einzulösen in der Lage war. Das wird er selbst, vermute ich, nicht grundsätzlich anders beurteilen. Trotzdem ist er ein wichtiger Spieler dieser Mannschaft. Er hat gekämpft, ist viel gelaufen, sah aber in einigen Szenen unglücklich aus. Zugegeben. Man kann auch verlangen, dass ihm der Trainer eine Denkpause auf der Bank gibt. Alles legitim. Unappetitlich wird es da, wo die Beurteilung einer Leistung mit persönlichen Herabwürdigungen einhergeht. Dafür besteht kein Anlass. Wie sollte ein solcher Anlass auch aussehen? Es ist überdies völlig kontraproduktiv – noch nirgends ist die Leistung eines Spielers durch Schmähungen der eigenen Anhänger verbessert worden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Fans sehr schnell mit moralischen Urteilen zur Hand sind, etwa gegen den bösen, verkommenen Profifußball unserer Tage oder die verderbten Boulevardmedien, die «ohne mit der Wimper zu zucken, Existenzen vernichten». Dann aber nicht zögern, vor allem um ihren eigenen Vorurteilen Nachdruck zu verleihen, gnadenlose und beleidigende Aussagen zu treffen. Öffentlich – im Stadion oder anderswo. Es ist nicht lange her, dass wir uns im Fall von Kevin Pezzoni gefragt haben, wie es zu einem solchen Irrsinn kommen konnte. Angesichts des derzeitigen Klimas um die Mannschaft des FC Rot-Weiß Erfurt, scheint mir das nurmehr eine rhetorische Frage.
Jede Fußballmannschaft auf den britischen Inseln wäre für so ein Last-Minute-Tor von all ihren Fans uneingeschränkt gefeiert worden. (Und unsere Fankurve hat das ebenso gehalten.) Klar, sie hätten sich anschließend derbe Witze erzählt über die fußballerische Unvollkommenheit ihrer Lieblinge. Aber in erster Linie wären sie stolz auf ihr Team und seinen Willen gewesen, eine Niederlage zu vermeiden. Die Mannschaft des RWE hat gestern alles gezeigt, was seit Wochen von ihr (zu Recht) gefordert wird: sie hat sich nie aufgegeben, sie hat bis zum Umfallen gekämpft, gewühlt, gekratzt und gebissen. Sie hätte sich dafür mehr als ein lauwarmes kollektives Schulterzucken verdient.
auf den punkt.
…als leserbrief zur lokalpresse..!?