Das bis zum vergangenen Samstag letzte Spiel, das ich im Leipziger Zentralstadion sah, fand am 14.06.2006 statt. Spanien zerlegte die Ukraine mit 4:0 und ich dachte damals bei mir: Wer zur Hölle soll diese Mannschaft besiegen? Nun, die Spanier schlugen sich im Achtelfinale der WM zum vorerst letzten Mal selbst (der Profiteur hieß Frankreich), um in der Folge ihre eindrucksvolle, aber inzwischen etwas enervierende Weltherrschaft über den Fußball anzutreten.
Vergleichbare spielerische Delikatessen waren vom Drittligaspiel RB Leipzig gegen Rot-Weiß Erfurt nicht zu erwarten. Wohl aber eine erbitterte Fehde um jeden Quadratmeter Rasen, jeden Ball, jeden geringen Vorteil. Schließlich hatten fast alle, denen sich dafür eine Gelegenheit bot, kaum eine Chance ausgelassen dieses Spiel emotional aufzuladen: Sportlich, popkulturell, ideologisch. Das berücksichtigend, muss man allen Kombattanten auf dem Rasen, und den meisten auf den Rängen Lob dafür zollen, dass es vergleichsweise fair und friedlich zuging.
Ein Wort zur Atmosphäre: Auf eine völlig gegensätzliche Art und Weise ist die Leipziger Arena ebenso ungeeignet für Drittligafußball wie das Erfurter Steigerwaldstadion. (Zugegeben, das ist sicherlich keine grundstürzend neue Erkenntnis.) 15.000 Zuschauer sind für ein sportlich nicht übermäßig bedeutendes (weil frühsaisonales) Spiel eine stattliche Kulisse. Von der Haupttribüne betrachtet, sah das trotzdem wie die Vormittagssession einer U23-Leichtathletik-EM aus: gähnend leere Ränge allenthalben. Akustisch hingegen bot vor allem der Erfurter Fanblock – trotz eines durchgehend zur Euphorie wenig Anlass gebenden Spielstands – wahrlich Herausragendes.
Kogler will nicht abwartend-defensiv spielen
Nicht wenige, so auch ich, hatten damit gerechnet, dass Kogler ein sehr defensives System wählt, z.B. ein 4-1-4-1 mit Kleineheismann als zusätzlichem, rein defensivem Sechser. Doch Kogler ist eben nicht Alois Schwartz, er blieb beim bis dahin bewährten 4-4-2. Vielleicht auch, weil Brandtstetter zur Überraschung aller doch einsatzfähig war. Und der Erfurter Trainer tat gut daran. Mal abgesehen davon, dass Kleineheismann als Sechser vermutlich erst gar nicht in die Verlegenheit gekommen wäre, diesen fatalen Rückpass zu spielen, ist es natürlich einfacher mit einer offensiveren, spielbegabteren Formation auf einen Rückstand reagieren zu können.
Das frühe Gegentor, natürlich ein Desaster
Wie es zu diesem ultrafrühen Gegentor kam, ist hinreichend belegt und diskutiert. Ich muss hier aber noch einmal altklug darauf hinweisen, dass damit rein statistisch gesehen, die Chance des RWE etwas Zählbares mitnehmen zu können, dramatisch gesunken waren. Im Grunde gegen jeden Gegner der Liga, ganz besonders aber gegen RB Leipzig. Es ist schlichtweg eine große Tugend von RB, kollektiv äußerst stark gegen den Ball zu verteidigen und derart für den Gegner wenig zuzulassen. Die dabei angewandten Methoden sind zum Teil jedem zeitgemäßen Taktiklehrbuch zu entnehmen, zum Anderen behilft man sich jedoch auch mit vielen geschickten Kleinfouls, die den Kontrahenten ebenfalls sehr wirksam am Aufbau des Spiels hindern, und vom Schiedsrichter zumeist unterhalb des üblichen Gelbradars verortet werden.
Umso bemerkenswerter war, wie der RWE mit der unvermittelt entstandenen Matchsituation umging. Nämlich sehr, sehr klug. Im Kommentar der mdr-Liveübertragung sagte der, vorsichtig formuliert, leicht RB-affine Reporter immer wieder, dass den Rot-Weißen doch herzlich wenig einfiele gegen die Verteidigung der Leipziger. Es ist nur so: Mit dem frühen Gegentor hatten sich die taktischen Vorzeichen diametral geändert. Anders als in Münster konnte man jetzt nicht mehr aus einer leicht defensiven Konterstellung heraus spielen, sondern musste, damit das Spiel nicht erstarrte, selbst agieren. Dabei aber stets im Auge behalten, dass noch genügend Zeit blieb, um ein Tor zu erzielen, es also überhaupt keinen Sinn ergab, zu früh ein zu großes Risiko einzugehen. Hätte man das getan, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch gewesen, mit 0:3 in die Pause zu gehen. So aber erarbeitete sich der RWE eine wahrnehmbare Feldüberlegenheit und in Folge einige tornahe Standards wie Ecken und Freistöße, aus denen die guten Möglichkeiten von Laurito und Brandstetter resultierten. Es waren Chancen und es waren Chancen auf Chancen vorhanden, nicht inflationär, aber genügend um wenigstens den Ausgleich zu erzielen.
Ich habe im Team des RWE an diesem Tag keine Schwachstelle gesehen. Jedenfalls, wenn man das momentane Leistungsvermögen der Spieler realistisch beurteilt. Es wäre schlichtweg ein bisschen irre, anzunehmen, dass Fillinger und Strangl als Fillinger und Strangl den Platz betreten und dort zu Robben und Ribery mutieren. Beide haben für ihre momentanen Möglichkeiten (nach beiderseits langer Verletzung, schwierigem Formaufbau, fehlender Spielpraxis) keinesfalls enttäuscht. Strangl merkte man sein Potenzial durchweg an, wenn auch nicht alles funktionierte. Fillinger konnte sich im Verlauf des Matches steigern; ihm gelang manch gefälliger Pass, ein jeder davon wichtig für sein Selbstvertrauen. Ebenfalls ihrem klugen taktischen Spiel war es zu verdanken, dass die beiden Außenverteidiger Odak und Czichos sich in der 2. Halbzeit vermehrt mit in die Angriffe einschalten konnten, ohne dass RB bei Ballverlusten sofort gigantische Räume offeriert bekam. Die für mich besten Akteure auf Seiten des RWE waren die beiden zentralen Mittelfeldspieler Engelhardt und Möhwald. Wie sie sich gegen die große Qualität des Leipziger Mittelfelds zur Wehr setzten, war bemerkenswert. Ihr Einsatz und ihr Zweikampfverhalten waren herausragend, ebenso ihr Wille dem Spiel des RWE offensiv eine Form zu geben. In der ersten Halbzeit agierten sie oft (und nachvollziehbar) mit langen Anspielen vor allem auf Brandstetter. Im zweiten Abschnitt setzte Erfurt mehr auf öffnende Diagonalbälle in Richtung der Flügel, wo vor allem Strangl und Odak ein paar Mal gefährlich vor dem Leipziger Tor auftauchten.
Insgesamt gilt: Wir haben das Spiel nicht verloren, weil wir zu wenige Möglichkeiten hatten, sondern weil wir die Möglichkeiten die vorhanden waren, nicht verwerten konnten.
Vom Schiedsrichter nicht gerade bevorzugt
In der Regel ist Schiedsrichterschelte in nahezu 100% aller Fälle ein Vorwand, um von eigenen Fehlleistungen abzulenken. Ein wenig verstehe ich aber Walter Koglers derzeitige Verdrossenheit, mehr noch: Ich teile sie. Das war jetzt das dritte Spiel in Folge in dem der RWE sehr wichtige Entscheidungen der Referees ertragen musste, die auch anders hätten ausfallen können, und denen man einen gewissen spielbestimmenden Charakter nicht absprechen kann. Für den Schiedsrichter war das kein einfaches Spiel. Es gab unzählig viele, meist kleinere Fouls. Mein Eindruck ist ja, dass die Spieler inzwischen im Training üben, wie man ein Foul begeht, ohne dass es wie ein solches aussieht. Die Betrachtung aller strittigen Szenen des Spiels würde den Rahmen dieses Textes sprengen, deshalb will ich mich auf zwei einschränken: Ich denke, dass das Foul gegen Brandstetter in der 1. Halbzeit eine Rote Karte hätte nach sich ziehen müssen. Der Leipziger Verteidiger macht das – nachdem er die bessere Position zum Ball vertändelt hatte – zwar sehr smart, nichtsdestotrotz hält er Brandstetter eindeutig fest. Der Schiedsrichter pfeift es nicht sofort ab, sondern mit einer gewissen Verzögerung, wohl einen evtl. Vorteil abwartend. Und nur dieses Zögern evoziert den Eindruck, dass der nachrückende Leipziger Spieler die Torchance noch hätte verhindern können. Fast noch gravierender eine Szene in der 2. Halbzeit im Leipziger Strafraum, bei der Laurito nach einer Flanke regelrecht umgenietet wurde. Der Ball war zwar schon weg und ich unterstelle dem Leipziger Spieler auch keine Absicht. Allein, das ist nebensächlich: Es war ein Foul, es war im Strafraum, es war Elfmeter. Wie gesagt, ansonsten gab es zuhauf strittige Szenen auf beiden Seiten, während mancher Spielphasen quasi im Halb-Minutentakt.
Der FC Rot-Weiß Erfurt hat dieses Spiel in Leipzig verloren. Wie dies geschah, verdient jedoch allen Respekt. Es gab schon viele Auswärtsspiele des RWE, bei denen eine ambitionierte, talentierte Mannschaft auf dem Platz stand, die sich aber nach einem Rückstand ihrem Schicksal ergab. Das war an diesem Samstag in Leipzig anders. Koglers Team glaubte an seine Chance und unternahm alles, um wenigstens einen Punkt mit nach Hause zu nehmen. Dass dies am Ende nicht gelang ist zwar ärgerlich, ändert aber nichts daran, dass wir im weiteren Verlauf der Saison noch einigen Spaß mit dieser Mannschaft haben werden. Jedenfalls deutet bisher nichts auf das Gegenteil hin.