Seit dem letzten Freitag um 19.00 Uhr rotiert der emotionale Durchlauferhitzer in Erfurt am äußersten Rand seiner Belastungsgrenze. Selbst ansonsten besonnene Anhänger des FC Rot-Weiß Erfurt müssen in den Vereinsforen ***-Konstrukte verwenden, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen.
Ich gestehe, dass mich die Absage (begründet mit §15 der DFB-Duchführungsbestimmungen) ebenfalls kalt erwischte. Vor allem, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass so was überhaupt möglich ist, da der Ausfall vieler Spieler aufgrund von Verletzungen/Erkrankungen weiß Gott keine Seltenheit darstellt und im Normalfall durch den Einsatz von Reservespielern (aus den II. Mannschaften oder den Nachwuchsteams) kompensiert wird. Es ist mir bislang nicht gelungen Präzedenzfälle dafür zu finden – was natürlich nicht bedeutet, dass keine existieren. Ich kann, das will ich gleich vorab sagen, mit diesem Text keine 100%ige Aufklärung anbieten, ob die Entscheidung des DFB korrekt war oder nicht. Das hängt mit einer Zahl zusammen, die ich bisher nicht verlässlich in Erfahrung bringen konnte, die aber für die Bewertung der Spielabsage von essenzieller Bedeutung ist: der aktuellen Anzahl der Lizenzspieler von Alemannia Aachen. Auf der Webseite des Vereins sind als Spieler der 1. Mannschaft 24 Fußballer benannt, bei kicker.de werden 22 ausgewiesen, während transfermarkt.de 26 Spieler der Drittligamannschaft listet. Wobei „Spieler der 1. Mannschaft“ nicht identisch sein müssen mit Lizenzspielern. Warum das wichtig entscheidend ist, werde ich weiter unten begründen. Profan gesagt, sind Lizenzspieler Profis, formaler ausgedrückt sind es Spieler, die einen Arbeitsvertrag mit einem Profiverein und einen Lizenzvertrag mit dem Ligaverband geschlossen haben. Außerdem gibt es noch Amateurspieler und Vertragsspieler. Letztere Form ist typisch für die Spieler von U23- und U19-Teams. Im Folgenden der gesamte §15 der DFB-Durchführungsbestimmungen (Hervorhebungen von mir).
„Beantragt ein Verein die Absetzung eines Bundesspiels wegen Erkrankung und Verletzung von spielberechtigten Spielern, entscheidet hierüber der jeweilige Spielleiter. Bei der Entscheidung über einen Antrag sind sport-typische Sachverhalte (Verletzungen, Sportstrafen usw.) nicht zu berücksichtigen. Ein Antrag auf Absetzung ist unverzüglich nach Bekanntwerden der Erkrankungen/Verletzungen vorzulegen. Dem Antrag sind die Atteste des/der behandelnden Arztes/Ärzte beizufügen. Außerdem sind amtsärztliche Zeugnisse vorzulegen. Ist dies nicht möglich, hat der Spielleiter das Recht, einen vom DFB beauftragten Arzt um einen Untersuchungsbericht zu bitten. Die Kosten trägt der antragstellende Verein. Zusätzlich ist bei Spielen von Lizenzspieler-Mannschaften im DFB-Vereinspokal zu prüfen, ob der antragstellende Verein den ausnahmsweisen Einsatz von mehr als drei Amateurspielern in der Lizenzspieler-Mannschaft beim Spielleiter beantragt hat. Ist dies nicht beantragt worden, muss dies gegenüber dem Spielleiter begründet werden. Dem Antrag ist nicht stattzugeben, wenn mehr als 13 spielberechtigte Lizenzspieler und/oder in der Lizenzspieler-Mannschaft spielberechtigte Amateurspieler zur Verfügung stehen. Unter diesen müssen sich mindestens sieben Lizenzspieler, darunter ein Torwart, befinden.„
Wie sah das medizinische Bulletin der Alemannia zum Zeitpunkt der Spielabsage aus: 18 Spieler mit einer amtsärztlich attestierten Atemwegserkrankung. (Ob das eine Grippe ist und welcher Typ, kann gesichert nur durch eine Laboruntersuchung festgestellt werden.) Vier verletzte Spieler. Anzahl der Lizenzspieler: ?
Den ersten kursiv gesetzten Satz des §15 kann ich nur so interpretieren, dass verletzte bzw. gesperrte Spieler nicht als krank mitgezählt werden dürfen. Damit kommen wir zum letzten Satz des Paragrafen: „Unter diesen müssen sich mindestens sieben Lizenzspieler, darunter ein Torwart, befinden.“ Wenn es bei der Alemannia 24 (oder weniger) Lizenzspieler gibt, dann ist der Tatbestand eindeutig: Selbst wenn die verletzten Spieler irrelevant für die Entscheidung sind (und quasi als gesund gelten), kommt man auf maximal 6 formal zählbare Lizenzspieler. Für diesen Fall kann man dem DFB nichts vorwerfen – er hat sich an seine eigenen Bestimmungen gehalten.
Anders verhält es sich, wenn die Alemannia 25 (oder mehr) Lizenzspieler unter Vertrag hat. Hier wird es uneindeutig. Dann sind die beiden Aussagen zueinander widersprüchlich. Es gibt in dem Paragrafen auch keinen Hinweis darauf, wie die letzte Aussage zu verstehen ist und ob sie die erste außer Kraft setzt. Eine logische Patt-Situation; denn natürlich stehen aufgrund der 4 Verletzten keine sieben Lizenzspieler zur Verfügung, sondern nur drei. Was aber eigentlich – laut erster Aussage – keine Rolle spielen dürfte. Ich werde mir in den nächsten Tagen mal die Mühe machen an den Kreml zu schreiben und den DFB bitten, mir die detaillierte Begründung der Spielabsage zur Verfügung zu stellen. Vielleicht wird sie ja auch vom Verein veröffentlicht.
Also, aus meiner Sicht kann man die Spielabsage durch den DFB derzeit nicht abschließend bewerten. Entweder befand man sich in vollem Einklang mit dem eigenen Regelwerk oder man hat eine Entscheidung getroffen, die – wegen eines nicht kohärenten Paragrafen – als einigermaßen willkürlich zu bezeichnen gestattet sein sollte.
Unabhängig von allen Zahlen und Paragrafen könnte man die Auffassung vertreten, dass die Erfurter Fußballgemeinde sich bitte wieder beruhigen sollte, denn schließlich gebiete es die sportliche Fairness, dass man nicht gegen einen derart unverschuldet geschwächten Gegner antritt. Egal ob nun wirklich 18 oder nur 14 Spieler die Grippe haben. Dem würde ich zustimmen. Normalerweise. Aber im Fall von Alemannia Aachen nicht. Während der RWE am Ende jeder Saison – aus wirtschaftlichen Gründen – seine besten Spieler ziehen lassen muss (wie andere Vereine auch), misswirtschaftet sich die Alemannia seit Jahren – unter tatenloser Nichtanteilnahme des DFB – von einer Krise in die nächste. Der RWE musste – wegen der prekären Finanzlage – in dieser Saison auf den eigenen Nachwuchs setzen und bezahlt dafür derzeit den sportlichen Preis. Der Alemannia lagen derartige Überlegungen offensichtlich fern; ein Konkursverfahren musste beantragt werden. Trotzdem ist derzeit völlig unklar, in welcher Liga die Alemannia in der nächsten Saison spielen wird. Es könnte noch immer sein, dass der RWE absteigt und es Alemannia Aachen irgendwie gelingt, die Klasse zu halten (sportlich wie wirtschaftlich). Deshalb hätte ich es nicht als außerhalb des Fair Play empfunden, wenn die Aachener zur Aufstockung der Profimannschaft auf Spieler ihrer Nachwuchsmannschaften hätten zurückgreifen müssen. So wie es der RWE bereits die ganze Saison über tut.